Zwar stellt auch ein sehr hoher Anteil von Kindern und Jugendlichen eine Volkswirtschaft vor besondere Aufgaben, nämlich die Bereitstellung einer hinreichenden Zahl an Schul-, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Eine „junge“ Bevölkerung hat sich allerdings als gute Basis für höheres Wachstum erwiesen. Als hartnäckiges volkswirtschaftliches Problem erweist sich dagegen die „Überalterung“ der Gesellschaft, also ein starker Anstieg der Bevölkerungsgruppe, die sich im Ruhestand befindet, wenn gleichzeitig der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung nicht mehr wächst oder sogar schrumpft. Dies stellt eine Belastung für die jeweiligen Rentensysteme dar und führt tendenziell zu einem Abbau des Kapitalstocks der Volkswirtschaft. Rücklagen werden aufgelöst, weniger Kapital neu angelegt. Gleichzeitig kann es zu einem Mangel an Arbeitskräften und einem Rückgang der Binnennachfrage kommen, weil die Konsumnachfrage sinkt. Als wichtig erweist sich in diesem Kontext Migration: Welche Volkswirtschaften verlieren Arbeitskräfte? Welchen Ländern gelingt es, junge und möglichst qualifizierte Menschen zu gewinnen? Beispielsweise geht der Aufstieg der USA zu größten Volkswirtschaft der Welt mit hohem Pro-Kopf-Einkommen Hand in Hand mit der Tatsache, dass das Land bis heute Ziel von Einwanderern ist.
Die Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaft sind so zahlreich, dass auch Kapitalmarktexperten gut beraten sind, demografische Entwicklungen in ihre langfristigen Überlegungen mit einzubeziehen. Es gibt sogar Investmentfonds, die diese Aspekte in den Vordergrund ihrer Strategie stellen. Allerdings sind demografische Einflüsse langfristiger Natur und werden in der Regel von anderen Faktoren so überlagert, dass es sich nicht als tragfähig erwiesen hat, eine Strategie allein auf demografische Faktoren abzustellen.
Japan gilt dagegen als Land, das schon lange mit dem „alten Problem“ zu tun hat. Die Situation ist durch eine hohe Lebenserwartung und eine niedrige Geburtenrate gekennzeichnet. Seit dem Jahr 2010 geht die Bevölkerungszahl zurück. Nennenswerte Einwanderung gibt es nicht. Als Hindernis dafür erweist sich das japanische Selbstverständnis der ethnischen Homogenität. Nach Jahren stürmischen Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg macht sich die demografische Situation seit den 1990er Jahren volkswirtschaftlich bemerkbar, beispielsweise in einer starken Tendenz zur Deflation. In den vergangenen drei Jahrzehnten entwickelte sich auch der japanische Aktienmarkt unterdurchschnittlich, wobei die demografische Entwicklung eine Rolle gespielt haben dürfte, auch wenn sich der Einfluss nicht beziffern lässt.
China: Die inzwischen gelockerte Ein-Kind-Politik beschwert China, zeitversetzt, ein ähnliches Problem. Schon im vergangenen Jahr schrumpft die Bevölkerung erstmals. Und die Zahl der Werktätigen sinkt noch schneller. Obwohl es Chinesen inzwischen erlaubt ist, wieder mehr als ein Kind zu haben, lag der Fertilitätsrate zuletzt bei nur 1,15 Kindern. Im Westen schwankt dieser Wert um 1,5 Kinder pro Frau. Die wohl weiter sinkende Geburtenrate dürfte durch das Ungleichgewicht von Männern zu Frauen verstärkt werden. Auf 100 chinesische Frauen kommen 112 Männer. Die UNO schätzt, dass die werktätige Bevölkerung Chinas bis Ende des Jahrhunderts um 80 Prozent schrumpfen wird. Ende des Jahrhunderts gäbe es bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen in Nordamerika dank höherer Geburtenrate und Zuwanderung wieder mehr Arbeitskräfte als in China. Die Gesamtbevölkerung Chinas dürfte in den nächsten 80 Jahren von heute 1,4 Milliarden unter 500 Millionen fallen. China dürfte sich aufgrund seiner soziokulturellen Prägung ähnlich wie Japan als nicht fähig erwiesen, sich für Migration in großen Umfang zu öffnen.
Auch wenn China große Fortschritte bei der Produktivität macht, dürfte es kaum in der Lage sein, den starken demografischen Rückgang zu kompensieren. Anders als oft prognostiziert dürfte also Ende des Jahrhunderts nicht China, sondern weiterhin die USA die größte Volkswirtschaft der Welt sein, zumal es den USA nicht an Einwanderungswilligen mangelt. China dagegen hat begonnen, mit seiner Politik der gewaltsamen Unterdrückung von Menschenrechten und Demokratie jungen, gut ausgebildeten Chinesen Gründe für eine Auswanderung zu liefern. Diese Effekte könnten unter einer Ein-Mann-Diktatur Xi Jingpings rasch größer werden und sind in den oben genannten Projektionen der UNO noch nicht einmal enthalten.
Das demografische Problem Japans ist seit langem bekannt, das Problem Chinas zeichnet sich seit Jahren ab. Eine dramatische Verschlechterung der demografischen Perspektiven bringt das aktuelle Jahr allerdings für Russland. Zwar schrumpft und altert auch die russische Bevölkerung schon seit Jahren; bislang konnte dies aber durch Zuwanderung etwas abgemildert werden. Über elf Millionen Migranten lebten 2020 in Russland, größtenteils aus ehemaligen Sowjetrepubliken wie Tadschikistan, Kasachstan, Armenien und auch der Ukraine. Von 2008 bis 2017 wuchs die Einwohnerzahl in der Russischen Föderation sogar leicht, wenn auch seit 2014 mit fallender Tendenz.
Ähnlich der Absicht zur Errichtung eines großdeutschen Reiches glaubt auch der russische Diktator für seinen Plan eines großrussischen Reiches mehr Bevölkerung zu brauchen. Der US-Historiker Timothy Snyder von der Yale University schrieb in der Fachzeitschrift „Foreign Affairs“, Putin sei besessen von Demografie und habe Angst davor, Russland könne bald zahlenmäßig unterlegen sein. Auch der französische Demograf Laurent Chalard zeigt sich überzeugt davon, dass Putin glaubt, die Macht eines Landes hänge von der Größe seiner Bevölkerung ab. Die deutsche Stiftung Wissenschaft und Politik kam zu dem Ergebnis, dass Russland das Ziel habe, durch Zuwanderung dem natürlichen Bevölkerungsschwund im eigenen Land entgegenzuwirken.
Ein ursprüngliches Ziel des russischen Angriffskrieges war es deshalb wohl, die Ukraine mitsamt ihrer gut 41 Millionen Einwohner für Russland zu vereinnahmen. Die aktuell praktizierte „kleine Lösung“ betreibt die Deportation ukrainischer Bevölkerung aus den besetzten Gebieten nach Sibirien und die massenhafte Adoption ukrainischer Kinder durch Russen. Insgesamt erreicht Diktator Putin aber auch hier mit seinem Krieg das Gegenteil seiner eigentlichen Ziele: Der demografische Niedergang Russlands wird dramatisch beschleunigt statt umgekehrt. Die Bevölkerungszahl ist laut der russischen Statistikbehörde Rosstat allein im ersten Halbjahr um 480.000 auf 146,1 Millionen gesunken. Schon bis Mitte des Jahrhunderts wird die russische Bevölkerung unter 140 Millionen Einwohner schrumpfen. Die Bevölkerungsgruppe, die nun für Putin und sein großrussisches Reich in den Krieg ziehen soll, Männer zwischen 20 und 50, ist ohnehin schon relativ klein. Die Mehrheit der Einwohner in Russland sind Frauen, 54 Prozent.
Der Politikwissenschaftler Alexander Libman, Professor am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, erklärte jüngst dazu, dass schon seit den 1990er Jahren die Sterblichkeitsraten und der Alkoholkonsum in Russland gestiegen seien, was zu einem „massiven Rückgang von Geburtsraten“ geführt habe. „Die Generation, die jetzt kriegsrelevant ist, war (…) sehr klein.“ Journalisten der russischen Zeitung "Nowaja Gaseta" haben ausgerechnet, dass Russland wegen des Krieges langfristig über zehn Prozent der jungen Männer verlieren könnte. Großen Einfluss darauf habe die Teilmobilisierung, die Putin im September verkündet hat, meint Professor Libman. Mindestens 200.000 Männer wurden bereits eingezogen. „Ein Großteil von diesen Menschen wird den Krieg dort nicht überleben oder sehr stark verletzt nach Hause kommen, weil wir einen Krieg haben mit massivem Einsatz von Artillerie.“ Die Wahrscheinlichkeit, an der Front verwundet oder getötet zu werden, liege bei 60 bis 70 Prozent, hat der Ökonom Oleg Itskhoki, Wirtschaftswissenschaftler der der University of California, ausgerechnet.
Hinzu kommt, dass wohl mindestens 700.000 Russen schon vor der Teilmobilisierung außer Landes geflohen sind. Mehrere Hunderttauschend Russen haben sich zudem seit Beginn des Ukraine-Kriegs dafür entschieden, dauerhaft aus Russland auszuwandern. Im ersten Halbjahr waren es laut der russischen Statistikbehörde 419.000. Während die schlechter ausgebildeten wohl größtenteils irgendwann nach Russland zurückkehren, werden gerade die gut Ausgebildeten bessere Perspektiven im Ausland finden als in ihrer Heimat. Dieser „brain drain“ werde für Russland in den kommenden Jahrzehnten ein großes Problem. Schon vor dem Krieg waren russische Schlüsselindustrien, also vor allem die Förderung fossiler Energieträger, in hohem Maße vom Know-how westlicher Experten abhängig. Nun hat Putin bei der Migration einen Vorzeichenwechsel bewirkt: Das Land ist für Zuwanderer unattraktiv geworden, treibt aber seine eigenen jungen Männer ins Ausland – oder in den Tod.
Fazit: Demografische Einflussfaktoren haben langfristig starke Auswirkungen auf die Entwicklung von Volkswirtschaften. Kurzfristig werden sie allerdings von anderen Faktoren überlagert, weshalb es nicht aussichtsreich ist, sie allein zu dem entscheidenden Kriterium im Fondsmanagement zu machen. Unter demografischen Gesichtspunkten hat sich in diesem Jahr vor allem Russland selbst massiv und langfristig geschadet. Es ist ohnehin nicht mehr praktisch „investierbar“. Vorsicht sollten Anleger aber gegenüber vermeintlich langfristigen China-Investments walten lassen. Der Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Supermacht dürfte aus demografischer Sicht seinen Zenit gerade überschritten haben.