Allenfalls Aktien aus einigen Branchen und einigen kleineren Volkswirtschaften konnten sich dem entziehen, sogenannte „Nebenwerte“ konnten es im Allgemeinen nicht. Im Gegenteil: Die nach ihrer Marktkapitalisierung, also dem rechnerischen Börsenwert des ganzen Unternehmens, mal als „Mid Caps“ (mittelgroße Kapitalisierung) oder „Small Caps“ (kleine Kapitalisierung) klassifizierten Aktien verloren im Jahr 2022 meist noch mehr als die sogenannten Standardwerte, „Blue Chips“ oder „Large Caps“.
Deutlich wird dies bei einem Blick auf die Veränderung von Aktienindizes im Kalenderjahr 2022: In den USA verlor der populäre Dow Jones Industrial Average, der die Kurse von nur 30 sehr großen US-Konzernen zusammenfasst, lediglich 8,8 Prozent. Der für den Gesamtmarkt mit 500 großen Aktien schon repräsentativere S&P-500-Index verlor 19,4 Prozent; aber der US-Nebenwerteindex Russell-2000 verzeichnete mit einem Minus von 21,6 Prozent einen noch höheren Verlust. Der Russell-2000-Index wird aus zweitausend Aktienkursen berechnet, wobei darin die nach Marktkapitalisierung größten eintausend US-Aktien nicht enthalten sind, damit sie als gewichtige Standardwerte das Ergebnis nicht in ihre Richtung verzerren.
Ebenfalls überschneidungsfrei sind in Deutschland DAX, MDAX und SDAX konstruiert (während der TecDAX Überscheidungen hat). Und auch bei diesen Indizes zeigte sich, dass Nebenwerte 2022 noch mehr verloren als Standardaktien: Während der DAX das Jahr mit einem Minus von 12,3 Prozent beendete, waren die Verluste beim MDAX mit 28,5 Prozent und beim SDAX mit 27,3 Prozent mehr als doppelt so hoch. Geradezu panisch mutete die Flucht der Anleger aus den Nebenwerten an.
Hauptursache für die Kursverluste an den Börsen 2022 war der unerwartet rasche und weitreichende Zinsanstieg, begleitet von zunehmenden Sorgen um die konjunkturelle Entwicklung. Pauschal lässt sich nicht hinreichend belegen, dass ein Zinsanstieg Nebenwerte stärker belastet. Auf Unternehmensebene ist letztendlich die Höhe der Verschuldung und die Struktur ihrer Finanzierung entscheidend. Im besten Fall hat ein Unternehmen wenig Schulden und benötigt in den nächsten Jahren kein neues Fremdkapital. Im schlechtesten Fall ist der Finanzbedarf hoch und die neuen Schulden müssen mit stark gestiegenen Zinsen bezahlt werden. Das ist unabhängig von der Unternehmensgröße so – und weil die Verschuldungsquoten bei kleineren Unternehmen nicht durchweg höher sind als bei großen Konzernen, kann das nicht der Grund für die Underperformance der Nebenwerte gewesen sein.
Die höheren Kursverluste der kleineren Aktien sind eher auf die Risikoeinschätzung der Investoren zurückzuführen. Vor konjunkturellen Schwächephasen neigen Anleger zu einem Rückzug aus Nebenwerten, weil deren Fähigkeiten, eine Rezession möglichst unbeschadet zu überstehen, als geringer eingestuft werden als bei großen multinationalen Konzernen. Die Abhängigkeit von bestimmten Zulieferungen, die Belastung eines Produktionsstandortes, das Wegbrechen einzelner Absatzmärkte – all das scheint kleinere Unternehmen eher zu bedrohen als große Konzerne. Wirklich belastbare empirische Daten, die dies belegen würden, lassen sich aber nicht anführen. Als Small und Mid Caps eingestufte Unternehmen können oft als Marktführer in Nischen wirtschaftliche Schwächephasen besser überstehen als vermeintlich diversifizierte Konzerne. Es dürfte also eher eine gefühlte Unsicherheit der Anleger sein, die bei wirtschaftlichen Störungen und Schwächephasen einen Rückzug aus Nebenwerten auslöst.
Darin liegt für antizyklisch denkende Investoren jetzt eine Chance. Der Abverkauf der Nebenwerte war übertrieben. Von Einzelfällen abgesehen, die es aber auch bei großen Konzernen immer wieder gab und geben wird, überleben auch die kleineren Unternehmen Krisen und Rezessionen nicht nur, bei vielen sieht die zu erwartende Gewinnentwicklung sogar besser aus als bei so manchem Großkonzern. So ist das im Durchschnitt höhere Gewinnwachstum der Nebenwerte mehrfach durch Studien belegt. Der sogenannte „Größeneffekt“ (Faktor „size“) lässt in der Langzeitbetrachtung eine signifikante Überrendite von Nebenwerten erwarten, was einen Bewertungsaufschlag zu Großkonzernen rechtfertigen würde – und im langfristigen Durchschnitt auch tut. Umso attraktiver sind Nebenwertefonds in Phasen, in denen Small und Mid Caps an der Börse mit einem Bewertungsabschlag gehandelt werden - wie jetzt. So liegt das Kurs-Buchwert-Verhältnis beim S&P Europe Small Cap Index aktuell nahe eins. Europäische Nebenwerte sind in dieser Indexbetrachtung also für kaum mehr als für das auf sie entfallende Eigenkapital zu kaufen. Das ist deutlich weniger als bei Large-Cap-Aktien, obwohl auch diese in Europa aktuell nicht hoch bewertet sind.
Nebenwerte, insbesondere europäische Small und Mid Caps verfügen über ein überdurchschnittliches Erholungspotenzial – dazu bedarf es lediglich einer Rückkehr zu den langfristigen Durchschnittsbewertungen. Fällt die eingepreiste Rezession milde aus, dürfte sich das schon im Laufe des Jahres 2023 in Kursgewinnen niederschlagen.
Bei der Fondsauswahl erscheint es deshalb empfehlenswert, auch in Nebenwerte zu investieren. Gegebenenfalls kann man hier mit einem auf europäische Nebenwerte spezialisierten Fonds „nachsteuern“.
