Im engeren, wörtlichen Sinne bezieht sich dies auf die Beobachtung von Rothschilds in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass der Ausbruch eines Krieges meist von Kursverlusten an den Aktienmärkten begleitet wird. Angesichts von Leid und Zerstörung nimmt die Bereitschaft ab, in Aktien zu investieren. Aber das gedrückte Kursniveau solle man zum Aktienkauf nutzen, denn spätestens mit der Aussicht auf Frieden steigen die Aktienkurse erfahrungsgemäß wieder.
Zumindest mit Blick auf die Wallstreet gilt dieses Muster offenbar auch für den Ukraine-Krieg: Am ersten Tag der russischen Invasion gab es Kursverluste; der Dow Jones erholte sich aber schnell und stand einen Monat nach dem russischen Angriff gut zwei Prozent höher als unmittelbar vor Kriegsbeginn. Die europäischen Aktienbörsen, die stärker betroffen sind, verloren mehr und konnten diesen Rückgang noch nicht gänzlich aufholen. So fiel der Euro-STOXX-50 bis auf 3.387, den niedrigsten Stand seit November 2020, und erholte sich ab dem 6. März so weit, dass ein Monat nach Kriegsbeginn nur ein Rückgang um 2,6 Prozent zu Buche steht.
Ist es zynisch oder unangemessen, sich angesichts des Krieges mit solchen Fragen zu beschäftigen?
Nein, im Gegenteil. Die Börse liebt den Frieden. Und auch diesmal hat der Ausbruch des Krieges Kursverluste bei Aktien ausgelöst. Umgekehrt feiert man an den Aktienmärkten das Ende eines Krieges, sobald dieser absehbar ist. Das ist beim Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine leider noch nicht der Fall. Aber es wird auch diesmal so sein. Wenn es hoffentlich die Chance gibt, die Ukraine mit westlicher Hilfe wieder aufzubauen, wird das wie ein großes, europäisches Konjunkturprogramm wirken und zu steigenden Aktienkursen führen.
„An der Börse wird die Zukunft gehandelt.“ Schon der drohende Krieg drückte die Kurse nach unten. Und schon die Hoffnung auf ein absehbares Ende eines Krieges lässt die Aktienkurse steigen.
Wenn man den Märkten etwas vorwerfen kann, dann, dass man allzu gerne an „Wandel durch Handel“ glaubt, also berechtigte moralische Bedenken hintenanstellt, solange man gute Geschäfte machen kann. Dass war lange in Deutschland in Bezug auf Putin-Russland zu beobachten. Und es gilt in großen Umfang heute noch weltweit für die Geschäfte mit China, das ebenfalls von einem Regime skrupelloser Kleptokraten mit Weltherrschaftsambitionen regiert wird. Ein im Westen kaum wahrgenommenes Warnsignal sollte die Dauerberieselung in den staatlich streng kontrollierten Medien mit antiwestlicher Propaganda sein: Eine weitere besorgniserregende Parallele zwischen Russland und China.
Kriegsgewinner? Die Aktien von Rohstoff-Produzenten und Rüstungskonzernen sind gestiegen. Unmoralisch? Nein. Der brutale Angriffskrieg Russlands über völkerrechtlich garantierte Grenzen hinweg auf einen autonomes Nachbarland, die Absicht, auch andere Grenzen in Europa mit Gewalt zu verschieben, die Drohungen gegen den Westen – all das sind, ebenso wie der Ausfall Russlands als Rohstofflieferant, gigantische Herausforderungen für Westeuropa. Dabei erfordert nicht nur die Wiederherstellung einer Verteidigungsfähigkeit einen Kraftakt. Auch die Rohstoffversorgung muss neu organisiert werden, insbesondere die Deutschlands, das entgegen den wiederholten Warnungen seiner Alliierten große Teile seines Bedarfs an fossilen Energieträgern in Russland deckt. Die nun notwendigen Veränderungen erfordern die Mobilisierung von viel Kapital. Und so ist es nicht zynisch, unmoralisch oder unangemessen, dass die Märkte auf die Herausforderungen reagieren: Es ist eine der wichtigsten Grundlagen für die Überlegenheit der freiheitlichen, demokratischen Staaten, dass freie Menschen als Marktteilnehmer selbst entscheiden dürfen - ohne einem staatlichen Plan oder Zwang folgen zu müssen. Steigende Aktienkurse bei Rüstungs- und Rohstoffunternehmen sind das Zeichen für veränderte Anforderungen, für die Bereitschaft Kapital für diese Sektoren zu mobilisieren. Russlands Angriff auf die Ukraine ist eine historische Zäsur. Die Spielregeln der Börsen verändert er aber nicht.
