Artikel

Große Rolle rückwärts?

Diese Episode auf Social-Media Plattformen teilen:
Die „Große Rotation“ war ein vermutetes, von Aktieninvestoren erhofftes Phänomen, das durch den weitreichenden Rückgang der Zinsen ausgelöst werden sollte: Wenn Zinsen auf Bankguthaben und die Renditen von Anleihen nahe null oder sogar negativ würden, müsste das zu großen Umschichtungen zugunsten von Aktien führen. Zudem dürften sich die Bewertung von Aktien ausweiten, denn rechnerisch würde ein Zinsrückgang einen hohen Anstieg der Multiples rechtfertigen. Eine Aktie, die zuvor vielleicht eine marktübliche Dividendenrendite von vier Prozent hatte, könnte sich bei gleicher Ausschüttungshöhe im Kurs verdoppeln, wenn aufgrund gesunkener Zinsen eine Dividendenrendite von zwei Prozent immer noch attraktiv wäre.

Hat diese „Große Rotation“ stattgefunden? Ja und Nein. Tatsächlich hat der Rückgang der Zinsen die Anlage auf Bankkonten unattraktiv gemacht. Fest- und Termingelder brachten schließlich keine Zinsen mehr oder wurden sogar mit „Negativ-Zinsen“, oft „Verwahrentgelt“ genannt, belegt. Vor diesem Hintergrund hat es in den vergangenen zehn Jahren eine verstärkte Hinwendung zu anderen Formen der Kapitalanlage, insbesondere Aktien- und Mischfonds, gegeben. Insbesondere die Aktienbörsen haben vom langen Rückgang der Zinsen profitiert. Aktienindizes stiegen auf nie zuvor erreichte Niveaus. Über zehn Jahre konnten Aktienfonds ihren Wert im Durchschnitt um rund 150 Prozent steigern. Klingt gut, doch wirklich spektakulär ist das nicht: Ein Zuwachs von 150 Prozent in 10 Jahren entspricht einer durchschnittlichen Rendite von 9,6 Prozent pro Jahr. Das liegt nur leicht über dem ganzlangfristigen Durchschnitt von Aktieninvestments. Angesichts der massiven Unterstützung durch die weiter denn je zuvor gefallenen Zinsen scheint die „Große Rotation“ also eher klein ausgefallen zu sein.

Tatsächlich ist es im Gesamtmarkt nicht zu einer Ausweitung der Bewertungsmaßstäbe gekommen. Finanzmathematisch hätten sich die Faktoren, mit denen angemessene Werte für Aktienkurse berechnet werden, insbesondere das Kurs/Gewinn-Verhältnis, stark erhöhen dürfen. Eine Gewinnrendite von 6 bis 7 Prozent entspricht einem Kurs/Gewinn-Verhältnis (KGV) von rund 15, eine Rendite von 4 Prozent einem KGV von 25. Bei einem Zinsrückgang Richtung null, hätten sich die Aktienkurse also vervielfachen müssen.

Und einige Aktien haben das tatsächlich getan: Technologie- und Wachstumsaktien profitierten vom Zinsrückgang stärker als andere. Ihre Aktienkurse vervielfachten sich tatsächlich. Bei Technologiefonds war eine Vervierfachung des eingesetzten Kapitals in den vergangenen zehn Jahren die Regel. In vielen Fällen konnten Fonds, die auf Technologie- und Wachstumsaktien ausgerichtet waren, ihren Wert sogar verfünf- oder versechsfachen. Tatsächlich kam es bei diesen Aktien auch zu einem deutlichen Anstieg der Bewertungsmaßstäbe, beispielsweise der Kurs/Gewinn-Verhältnisse. Bei sogenannten Wachstums- oder Growth-Aktien, die sich weniger auf schon vorhandene Substanz und gegenwärtige Gewinne stützen können (wie die sogenannten Value-Aktien), spielt die Höhe der Zinsen eine viel größere Rolle. Nicht unbedingt, weil ihre Verschuldung höher ist und steigende Zinsen einen höheren Zinsaufwand bedeuten, sondern weil Investoren für den Einsatz ihres Kapitals eine marktübliche Rendite erwarten: Gibt es ohnehin keine oder nur sehr niedrige Zinsen, fällt es leicht, auf Gewinne zu warten, die erst in einigen Jahren in der Zukunft so richtig sprudeln. Bei höheren Kapitalmarktzinsen bedeutet es dagegen ein Opfer, Jahre des Wachstums abzuwarten. Finanzmathematisch sinkt der Gegenwartswert von Zahlungen, die Jahre in der Zukunft liegen, umso stärker je höher die Zinsen sind.

Folgerichtig leiden gerade Technologie- und Wachstumsaktien seit einem halben Jahr stark unter der Zinswende. Hier erleben die Aktienbörsen gerade die „große Rolle rückwärts“: Wachstums-Aktien haben seit Jahresbeginn rund 20 Prozent an Wert verloren, wenn man beispielsweise den amerikanischen Nasdaq-100-Aktienindex zum Maßstab dafür macht. Viele Aktien von Technologie-Unternehmen, die die Gewinnschwelle noch nicht erreicht haben, verloren sogar über die Hälfte ihres Wertes – trotz unverändert guter Aussichten. Je mehr sich die Bewertung von Aktien auf Unternehmensgewinne stützt, die erst in ein paar Jahren erzielt werden sollen, um so empfindlicher reagieren die Aktienkurse auf steigende Zinsen.

Aber es gibt zwei tröstliche Aspekte: Zum einen dürfte der größere Teil des Zinsanstiegs inzwischen „verarbeitet“ worden sein, die Erwartung weiter steigender Zinsen also schon in der Aktienbewertung enthalten sein. Zuletzt keimte an der Wallstreet die Hoffnung auf, dass die US-Notenbank das Tempo ihrer Zinserhöhungen im zweiten Halbjahr verlangsamen kann. Dann würde der Druck, der von steigenden Zinsen auf Wachstumsaktien ausgeht, bald nachlassen.

Zum anderen zeigen sich Substanz- und Value-Aktien vom Zinsanstieg weitgehend unbeeindruckt, wie der bisherige Jahresverlauf zeigt. Sie konnten zwar in den vergangenen Jahren kaum von Zinsrückgang profitieren und wurden deshalb vom Anstieg der Wachstums-Aktien abgehängt, dafür leiden sie nun aber nicht unter der Zinswende. Nachdem „die große Rotation“ also nicht allen Aktien geholfen hat, erleben jetzt auch nicht alle Aktien „die Rolle rückwärts“.

Zurück