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Die Ebbe kommt

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„Die Flut hebt alle Schiffe“ hieß es in den vergangenen Jahren oft, um die Wirkung des billigen Geldes an den Börsen zu erklären. Vor 40 Jahren, im Jahr 1982, begann der übergeordnete Abwärtstrend der Zinsen. Damals lagen die lang- und kurzfristigen Zinsen in den USA über 15 Prozent!

Mit der Wende von der nachfrage- zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik gelang auch Dank der hohen Zinsen in den 1980er Jahren der Sieg über die Inflation. Spätestens seit den 1990er Jahren leistete dann die fortschreitende Globalisierung ihren Beitrag dazu.

Nun ist die schon oft für tot erklärte Inflation lebendiger denn je zurück. Die Globalisierung scheint ihren Zenit überschritten zu haben. Und das erste Halbjahr 2022 war bereits davon geprägt: Es war verlustreich, weil sowohl die Aktien- als auch die Anleihemärkte erheblich unter Druck standen. Zwar hat es in den vergangenen Jahren immer wieder Kursrückschläge und Schwächephasen gegeben, aber ein Umstand dämpft die Hoffnung auf eine zügige Kurserholung: Während in den vergangenen 40 Jahren die Notenbanken immer wieder Spielräume zur geldpolitischen Lockerung nutzten, um Konjunktur und Börsen wieder auf die Beine zu helfen, ist in nächster Zeit von den Notenbanken das Gegenteil zu erwarten: Das rasant steigende Preisniveau erzwingt das Ende der lockeren Geldpolitik. Statt mit viel Liquidität die Probleme wegzuspülen und mit immer neuem Geld Löcher zu stopfen, werden die Notenbanken in den nächsten Jahren den Preis für diese Politik erheben müssen: Im Kampf gegen die Inflation werden sie den Märkten Liquidität entziehen müssen. Und die steigenden Zinsen werden Löcher in so manches Budget reißen: in Staatshaushalte, Investitionsbudgets von Unternehmen und Hauskaufpläne von Privathaushalten. Auf die Flut folgt die Ebbe.

Investoren kommen damit in ein Umfeld, in dem verschiedenste Asset-Klassen gleichzeitig Kursverluste erleiden: Aktien und Anleihen verlieren gleichzeitig an Wert. Und der Druck auf die Immobilienpreise hat mancherorts auch begonnen. Nicht zufällig gehören wohl Kryptowährungen zu den größten Verlierern des ersten Halbjahres: Die Digitalwährungen sind ein Kind der Überschuss-Liquidität, wollten eine Alternative zu den aufgebähten Fiat- bzw. Papier-Währungen sein, hängen aufgrund ihrer Substanzlosigkeit aber mehr als alles andere am massenpsychologischen Wechselspiel von Gier und Angst. Aktien und Anleihen dagegen verbriefen Miteigentum und verzinsliche Forderungsrechte. Das begrenzt, von den Fällen der Pleite abgesehen, den Rutsch in die Wertlosigkeit.

Auch wenn das Kapitalmarktumfeld seit einem halben Jahr anspruchsvoller geworden ist, den Risiken stehen auch Chancen gegenüber. In einer Welt mit höherer Inflation und höheren Zinsen, stärker schwankenden Kursen und geringerem Anstieg des Gesamtmarktes ist wahrscheinlich die populäre gewordene Empfehlung, einfach auf einen MSCI Welt-ETF zu setzen, nicht mehr der beste Rat. Wenn der Erfolg von Anlageentscheidungen stärker davon abhängig wird, was man wann kauft (und verkauft), zeigen sich die Stärken aktiven Fondsmanagements. Eine gute Titelselektion reklamieren fast alle Fondsmanager für sich. In Zukunft werden sie es mit dem ungeliebten Timing verbinden müssen, um auch bei Ebbe zu den Gewinnern zu gehören.

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