Artikel

Der russische Bär

Diese Episode auf Social-Media Plattformen teilen:
Der russische Bär ist eine nationale Personifikation Russlands, die zwar ihren Ursprung westlichen Russland-Reisenden zu verdanken hat – schon im 16. Jahrhundert als Anspielung auf die (geografische) Größe des Landes. Erst seit dem 20. Jahrhundert, verstärkt nach dem Zerfall der Sowjetunion, wird das Symbol von den Russen selbst verstärkt verwendet. An den Börsen gilt der Bär als Symboltier für fallende Kurse. Aktuell passt das leider gut zusammen.

Die Aktienmärkte reagierten natürlich weltweit mit Kursverlusten auf den Kriegsausbruch. An der Börse Kiew brach der UTX Ukrainain Traded Index um gut 21 Prozent ein. Der größte wirtschaftliche Verlierer, das sehen auch die Börse so, ist aber Russland selbst: Der russische Index RTS der Moskauer Börse erlebte schon in der ersten Reaktion einen Crash um 37 Prozent. Zeitweilig halbierte sich der Wert der börsennotierten russischen Wirtschaft schon am ersten Tag des Krieges. Die auch von etlichen westlichen Anlegern gehaltene Aktie des russischen Gasmonopolisten GAZPROM verlor in einer ersten Reaktion 40 Prozent ihres Wertes. Und die russische Sberbank, das führende Finanzinstitut Russlands, kostete der Angriff sogar drei Viertel ihres Wertes. An den Devisenmärkten brach der Wechselkurs des russischen Rubel ein. Trotz Interventionen der russischen Notenbank fiel die russische Währung auf den tiefsten Stand ihrer Geschichte, über 100 Rubel pro Euro. Russische Wirtschaftsexperten hatten vergeblich vor einem Krieg gegen die Ukraine gewarnt. Die wirtschaftlichen Konsequenzen seines Tuns seien egal, erklärte der russische Diktator Putin. Die Sanktionen des Westen könnten keinen Schaden anrichten – nur ein Punkt auf der langen Liste der verheerenden Fehleinschätzungen Putins.

Mit dem Angriffskrieg des russischen Machthabers Putin gegen die Ukraine vollzieht sich eine epochale Veränderung, die wahrscheinlich das ganze Jahrzehnt prägen wird, vielleicht einen Zeitraum darüber hinaus: Eine Rückkehr zu einem Ost-West-Konflikt, ähnlich dem in den Zeiten vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Auch wenn es schwerfällt, den Fortgang, die Dauer und das Ausmaß des Krieges abzuschätzen, zeichnen sich doch die wirtschaftlichen Auswirkungen ab.

Das herrschende russische Regime hat sich als internationaler Vertragspartner dauerhaft disqualifiziert. Ausländische Investitionen in Russland sind der Willkür des Diktators ausgesetzt. Es war bislang schon fragwürdig, mit der russischen Kleptokratie Geschäfte zu machen; nun rächt es sich. Russland kann für den Westen erst „nach Putin“ wieder als Geschäftspartner in Frage kommen.

Damit hat eine Entflechtung der Wirtschaftsbeziehungen begonnen, die zu einem Exodus westlicher Konzerne aus Russland führt. Gut sichtbar ist dies bereits bei den Ölkonzernen, die jetzt noch die Chance auf einen geordneten Rückzug sehen: Auf die britischen Konzerne Shell und BP folgten der US-Ölkonzern ExxonMobil und der italienische Konzern Eni. ExxonMobil beispielsweise kündigte an, sich schrittweise aus dem Betrieb eines großen Ölfelds in Russland zurückzuziehen. "Als Reaktion auf die jüngsten Ereignisse beginnen wir mit dem Prozess der Einstellung der Aktivitäten und ergreifen Maßnahmen, um schrittweise aus dem Ölprojekt auszusteigen", erklärte das Unternehmen. Das Ausmaß, in dem Russland damit in seiner Schlüsselindustrie Kapital und Know-How verliert, kann das Regime nicht kalt lassen: Schon versucht Moskau per Präsidialerlass die Kapitalflucht aufzuhalten.

Exxon Mobil betreibt in einem gemeinsamen Konsortium mit dem russischen Ölkonzern Rosneft, einem indischen und einem japanischen Unternehmen seit 1995 das Sachalin-1-Ölfeld im Osten Sibiriens. Der italienische Ölkonzern Eni erklärte am gleichen Tag, sich aus der Blue-Stream-Gaspipeline zwischen Russland und der Türkei zurückzuziehen, einem 50:50-Joint-Venture mit dem russischen Gaskonzern Gazprom. "Eni beabsichtigt, seinen Anteil an Blue Stream zu verkaufen", sagte ein Unternehmenssprecher.

Die britisch-niederländische Ölfirma Shell hatte schon zuvor angekündigt, ihren 27,5-Prozent-Anteil an dem Öl- und Gasprojekt Sachalin-2 im Fernen Osten Russlands abzustoßen. Zudem werde es seine 50-prozentige Beteiligung an dem Ölfeld Salim in Westsibirien und an dem Gydan-Erkundungsprojekt auf der gleichnamigen Halbinsel im Nordwesten Sibiriens beenden. Auch die Beteiligung von Shell an der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 wird beendet. Der britische Ölkonzern BP hatte schon bekanntgegeben, seine 20-prozentige Beteiligung an Rosneft zu verkaufen.

Angesichts des Rückzugs der westliche Konzerne will der Kreml mit einem Präsidialerlass den Abzug der westlichen Konzerne verhindern: "Um den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, fundierte Entscheidungen zu treffen, wurde der Entwurf eines Präsidialdekrets vorbereitet, mit dem vorübergehende Beschränkungen für den Abzug russischer Vermögenswerte eingeführt werden sollen".

Die Abschreibungen auf ihre Investitionen in Russland werden die westlichen Ölkonzerne weitaus besser verkraften als die russische Ölindustrie den Verlust an Know-How, Technologie und Ersatzteilen. Den Verlusten in Russland stehen hohe Gewinne wegen des starken Ölpreisanstiegs gegenüber.

Wenn man von der Rolle als Rohstoffproduzent absieht (siehe dazu gesonderten Artikel „Kein Rohstoffmonopol Russlands“) ist Russland glücklicherweise für die Weltwirtschaft nicht sehr bedeutend. Die Ausfuhren westlicher Unternehmen nach Russland sind im Verhältnis zur Gesamtleistung überschaubar. Sogar aus Deutschland wurden beispielsweise im vergangenen Jahr nur Waren im Wert von 26,65 Milliarden Euro nach Russland exportiert. Im Verhältnis zum Gesamtwert der deutschen Exporte 2021 in Höhe von 1.375 Milliarden Euro sind das nur 1,94 Prozent. Für die meisten westlichen Volkswirtschaften ist die Rolle Russlands als Absatzmarkt noch geringer. Auch wenn einzelne Unternehmen stärker betroffen sind, ist der Wegfall Russlands als Abnehmer verkraftbar. Die Aktienbörse reagiert entsprechend differenziert: Aktien von Unternehmen mit größerem Russland-Geschäft verlieren mehr, darunter westeuropäische Banken, die bislang den Handel mit Russland finanziell begleiteten. Volkswirtschaftlich ist der Verlust des Russland-Geschäfts für den Westen verkraftbar, der Verlust des Geschäfts mit dem Westen für Russland nicht. “Russischer Bär“ ist auch der Name eines Schmetterlings. Für die Weltwirtschaft ist das die Gewichtsklasse Russlands.

Zurück